Kunden bestellen online, Systeme geben die Aufträge automatisch weiter, Roboter fertigen, Maschinen bestellen selbst ihren Nachschub und Kunden entwickeln in Sozialen Netzwerken die Produkte selbst. Das ist die Vision einer „Industrie 4.0“. Aber: Die menschenleere Fabrik wird es nicht geben. Der Mensch bleibt die steuernde Größe, er wird aber eigenständiger arbeiten, so die Quintessenz des 9. Bocholter Personalforums, das am Dienstag im Hotel Residenz stattfand.
Dr. Mikko Börkircher, Verbandsingenieur bei Metall NRW und einer der sechs Referenten des Forums, brach den abstrakten Begriff Industrie 4.0 auf die tatsächlichen Veränderungen herunter, die die Digitalisierung für die Arbeit der Menschen haben wird: „Vor allem die Arbeitszeit wird fundamentalen Änderungen unterworfen sein: Möglich wird die Abrufarbeitszeit mit einem wöchentliches Zeitkontingent und vereinbarten Ankündigungsfristen; oder amorphe, sprich: gestaltlose, Arbeitszeiten, die der Arbeitnehmer familienfreundlich quasi frei gestalten kann; und nicht zuletzt die digitale Rufbereitschaft, bei der der Servicetechniker online von zu Hause die Maschine im Betrieb wieder ans Laufen bringt.“
Die anderen Referenten betrachteten das Thema „Arbeit 4.0“ aus weiteren Blickwinkeln – sei es Arbeitsorganisation, Arbeitsbedingungen, Arbeitsrecht, Berufsausbildung oder Fertigung. „Die 60 Teilnehmer erhielten so für das visionäre Thema ein Packende. Nicht ohne Grund wird ‚Industrie 4.0‘ als vierte industrielle Revolution – nach den Vorträgen würde ich eher sagen: Evolution – bezeichnet. Die technischen Entwicklungen bringen für die Personalabteilungen tiefgreifende Veränderungen mit sich, über die wir informieren wollten“, fasst Organisator Jürgen Paschold vom Unternehmerverband die eintägige Veranstaltung zusammen.
Die 60 Unternehmer, Geschäftsführer, Personalleiter und Mitarbeiter von Personalabteilungen, die zum Forum gekommen waren, interessierten sich besonders dafür, wie sich bei der Arbeit 4.0 ihr Führungsverhalten ändern muss. Da die Mitarbeiter künftig autonomer agieren, seien sie weniger auf eine klassische Führungskraft angewiesen. „Die Führungskraft, die ‚Mikromanager‘ ist, diktatorisch Anweisungen gibt und den Mitarbeiter erst einmal machen lässt, ist passé. Gefragt ist das Vorbild, der Begeisterer, der ganzheitlich denkende Unternehmer“, erläuterte Dr. Ulrich Frenzel von der Staufen AG. Führungskräfte von Morgen müssten sich als Mentoren verstehen, die vor allem eins haben: Problemlösungskompetenz. „Gute Beobachtung und gezielte Fragen umkreisen die Probleme etwa in der Produktion oder in der Entwicklung. Die Führungskraft motiviert die Mitarbeiter, selbst Vorschläge zu machen, wie das Problem gelöst werden kann.“ Solche häufigen Feedbackschleifen lösen dann nicht nur das Problem an sich, sondern verbessern auch den Prozess stetig.
Nach den Vorträgen über arbeitsrechtliche Auswirkungen (Wer steht dafür ein, wenn ein Roboter einen Fehler macht?) und Informationen über sich verändernde Ausbildungsberufe kamen bei der von Jürgen Paschold moderierten Abschlussrunde die Unternehmer ins Gespräch. Bei vielen steckt das Thema noch in den Kinderschuhen, gerade erst werden Standards entwickelt. Ein Unternehmer berichtete von seinen guten Erfahrungen: Das Wissen für kritische Punkte im Gießereiprozess wird an staubgeschützten Terminals in der Produktion zur Verfügung gestellt. „Nehmen Sie bei Ihren Planungen die Themen Sicherheit, Datenschutz, Mitbestimmungsrechte, Arbeitszeit und Entgelt mit in den Blick“, riet Paschold abschließend und bot sogleich Unterstützung an. „Wir werden die Themen Industrie 4.0 / Arbeit 4.0 zum Schwerpunktthema in und um Bocholt machen. Gemeinsam mit der Wirtschaftsförderung und der Hochschule gestalten wir gerade ein Netzwerk ‚Von der Vision in die Praxis‘. Im Fokus steht der Meinungsaustausch unter den Unternehmen und fachkundigen Partnern.“
Jürgen Paschold von der Regionalgeschäftsführung des Unternehmerverbandes hatte das Forum zum neunten Mal organisiert; es hat sich als praxisorientierte Veranstaltung mit viel Zeit zum Netzwerken etabliert. Weitere Informationen unter www.unternehmerverband.org oder bei Jürgen Paschold, Telefon: 02871 23698-11, paschold(at)unternehmerverband(dot)org
Zusammenfassungen der Referate:
Führungskräfte von Morgen sind Mentoren
Den Fokus auf den Prozess und nicht auf das Ergebnis legen, ist laut Dr. Ulrich Frenzel von der Staufen AG die Voraussetzung, um das Thema Industrie 4.0 überhaupt angehen zu können. Da die Mitarbeiter künftig autonomer agieren, seien sie weniger auf eine klassische Führungskraft angewiesen. „Die Führungskraft, die ‚Mikromanager‘ ist, diktatorisch Anweisungen gibt und den Mitarbeiter erst einmal machen lässt, ist passé. Gefragt ist das Vorbild, der Begeisterer, der ganzheitlich denkende Unternehmer.“ Führungskräfte von Morgen müssen sich als Mentoren verstehen, die vor allem eins haben: Problemlösungskompetenz. „Gute Beobachtung und gezielte Fragen umkreisen die Probleme etwa in der Produktion oder in der Entwicklung. Der ideale ‚Chef 4.0‘ sollte vor allem ein guter Kommunikator sein. Eine neue Technologie kann nicht führen. Die Führungskraft motiviert die Mitarbeiter, selbst Vorschläge zu machen, wie das Problem gelöst werden kann.“ Solche häufigen Feedbackschleifen lösen dann nicht nur das Problem an sich, sondern verbessern auch den Prozess stetig.
Visionäre Arbeitszeitmodelle erforderlich
Dr. Mikko Börkircher, Verbandsingenieur bei Metall NRW, brach den abstrakten Begriff Industrie 4.0 auf die tatsächlichen Veränderungen herunter, die die Digitalisierung für die Arbeit der Menschen haben wird. So werde es beim Entgelt statt Akkordprämien ein tarifliches Grundgehalt mit Leistungszulagen und Zielvereinbarungen geben. „Die Herausforderung wird sein, die Leistung passend zu beurteilen; hier können vorhandene Bewertungssysteme aber gute Hilfestellungen sein.“ Vor allem die Arbeitszeit wird aber fundamentalen Änderungen unterworfen sein: „Das reicht von Abrufarbeitszeit mit einem wöchentlichen Zeitkontingent und vereinbarten Ankündigungsfristen über amorphe, also gestaltlose, Arbeitszeit, die der Arbeitnehmer familienfreundlich quasi frei gestalten kann, bis hin zu digitaler Rufbereitschaft, bei der der Servicetechniker online von zu Hause die Maschine im Betrieb wieder ans Laufen bringt.“ Bei allen Visionen müsse aber der Gesetzgeber Schritt halten: „Momentan erlaubt das Arbeitszeitgesetz solche Modelle nicht“, schränkte Börkircher ein. Interessante Ausblicke gewährte er auch beim Thema Crowdsourcing statt Outsourcing. Als Beispiel berichtete er von Gummibärchen, Joghurts und Duschgels, die durch Kunden in Sozialen Netzwerken entwickelt wurden. „Wir werden uns auf vielfältigste neue Formen der Zusammenarbeit einlassen müssen. Die menschenleere Fabrik wird es aber nicht geben, der Mensch bleibt die steuernde Größe, er wird aber eigenständiger arbeiten“, so das Resümee des Verbandsingenieurs.
Befürchtung: Technologie ersetzt Mensch
Das Thema „menschenleere Fabrik“ griff auch Detlef Gerst von der IG Metall auf, denn die Mitarbeiter und Betriebsräte hätten instinktiv zunächst einmal große Befürchtungen vor mehr Automatisierung und mehr digitaler Vernetzung. Gerst zählte interessante Etappen auf dem Weg dorthin auf: Menschliche Arbeit wird (ergonomisch) durch Roboter, die Hände, Finger und Augen haben, ergänzt, es wird in Clouds und Crowds gearbeitet, Schnittstellen werden weniger, Wartung und Instandhaltung ist über immer größere Distanzen möglich, Produktion wird intelligent gesteuert und der Mensch wird Teil des Datenflusses. Wenn irgendwann autonome technologische Entscheidungen menschliche Entscheidungen ersetzen, bedeutet das weit reichende Veränderungen der Arbeit. Befürchtet werden Belastungen wie kognitive Überforderung, Verantwortung nicht nur für eigene, sondern auch die Entscheidungen der Maschine, fehlende Zeitsouveränität, eingeschränkte Arbeitsteilung sowie der transparente Mensch. „Deshalb müssen Gesetze im Arbeits- und Gesundheitsschutz unbedingt weiterentwickelt werden, wenn Mensch und Roboter nicht getrennt voneinander, sondern zusammen arbeiten“, so Gerst.
Rechtliche Fallstricke von Industrie 4.0
Christian Kuß, Rechtsanwalt mit Schwerpunkt auf dem IT-Recht bei der Luther Rechtsanwaltsgesellschaft mbH, stellte die Fragen, die den Teilnehmer nach den ersten drei Vorträgen auf den Lippen lagen: Wer steht dafür ein, wenn ein Roboter einen Fehler macht? Wie kommen Verträge zustande, wenn die Lagersysteme automatisch Nachschub bestellen? Darf der Vorgesetzte die erzeugten Datenmengen auswerten, um die Leistung seiner Mitarbeiter zu kontrollieren? Zunächst einmal, so Kuß, gibt es kein Dateneigentum, wenn auch teilweise Schutz durch allgemeine Schutzrechte besteht. „Wie die Unternehmen die Daten nutzen dürfen, ist durch die Vorgaben des Datenschutzrechts geregelt. Auf jeden Fall muss der Betriebsrat frühzeitig beteiligt werden.“ Wenn Maschinen Nachschub eigenständig bestellen, sei ein Rahmenvertrag notwendig, das Risiko bei Fehlern trägt der Verwender. Unsicherheiten bleiben aber unvermeidlich, wie der Jurist zusammenfasst: „Die Probleme sind zwar im Ansatz identifiziert, rechtssichere Lösungen stehen aber noch nicht parat. Diese Unsicherheit führt zu Risiken für Unternehmen, die bei der Einführung von Industrie 4.0 berücksichtigt werden müssen.“ Und weiter: „Die juristische Herausforderung besteht zum einen darin, das Verantwortungsprinzip, wonach stets ein Mensch für Handlungen einsteht, neu zu definieren, und zum anderen darin, den Umgang mit den erzeugten Datenmengen festzulegen.“
Der Manager zwischen Witz und Wirklichkeit
Nach der Mittagspause stimmte der Cartoonist Dirk Meissner auf humoristische Weise auf die weiteren Vorträge ein. „Cartoons malen ist Spaß, Witztheorie ist Horror.“ Um direkt aufzulösen: „Witztheorie ist zwar nicht lustig, aber logisch.“ Denn nach seinem eigenen Ansatz lasse sie sich mit Quantenphysik erklären. Nach viel Rechnerei kam Meissner zu dem Schluss: Wahrheit, Wirklichkeit und Witz gehören eng zusammen. „Sie glauben, es ist ein Witz, dass man über Witztheorie referieren kann? Naja, ich bin ja heute nach Bocholt gefahren und spreche jetzt vor Ihnen. Das ist in Wahrheit die Wirklichkeit.“
Qualifizieren für die digitalisierte Arbeitswelt
Wie stark sich die Digitalisierung auf die Berufsausbildung auswirkt, machte Torben Padur vom BIBB, Bundesinstitut für Berufsbildung, mit einem markanten Beispiel deutlich: die Druckindustrie, die sich aufgrund sinkender Nachfrage im digitalen Zeitalter extrem verkleinert hat. „Dort jahrzehntelang erlernte Berufe wie Fotolaborant, Tiefdruckretuscheur, Schriftsetzer usw. mündeten alle im ‚Mediengestalter Digital und Print‘.“ Wie bei diesem Beispiel sei auch in allen anderen Branchen die Berufsgenese kontinuierlich: Berufsbilder werden neu geschaffen, Berufsprofile verschieben sich, Inhalte werden erweitert, integriert, aufgespalten, reduziert oder abgestuft. Padur: „Notwendig ist ein Screening nahezu aller Ausbildungsberufe im Hinblick auf die Veränderungen durch die Digitalisierung der Arbeitswelt.“ Als Beispiel nannte er Gesundheit und Pflege, in der Pflegeroboter eingesetzt werden.
Alte Fabrik, neue Fabrik
Dass Industrie 4.0 frühestens in 20 Jahren Realität sein wird, war Ausblick aller Referenten. Doch einige Vorreiter seien schon auf diesem Weg unterwegs, stellte Jürgen Petzel von der MPDV Mikrolab GmbH vor. Er nahm das Publikum mit auf Rundgänge durch zwei Firmen, eine „herkömmliche“ und eine neue Fabrik. In letzterer gibt es elektronische Leitstände, die live Ist-Daten und die Maschinenauslastung zeigen und auch die aktuelle Personalplanung, Auswertungen über Ausschussgründe oder Trends durch lange Datenreihen aufzeigen. Worauf es künftig ankomme, sei auch, die richtigen Informationen am richtigen Ort zur Verfügung zu stellen: „Die Produktion wird immer kleinteiliger und sicherheitsrelevanter. Wer Airbags herstellt, muss dokumentieren, welcher Faden oder welche Sprengkapsel verwendet wurden; außerdem, dass die Mitarbeiter, die sicherheitsrelevante Teile bearbeiten, alle sechs Monate ihren Sehtest gemacht haben.“ Künftig werden deshalb z. B. Arbeitsanweisungen online zu Verfügung gestellt oder Montage- und Verpackungshinweise in Filmsequenzen gezeigt. „Die Digitalisierung macht es möglich, dass Produktionsprozesse transparent und effizienter werden. Das unterstützt die Unternehmen auf dem Weg zu Industrie 4.0“, so Petzel abschließend.