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WeiterlesenAm 25. Februar tagte in Duisburg der Krisenstab der Kindernothilfe. Einen Tag zuvor hatte Russland die Ukraine überfallen. Im Mittelpunkt des Treffens die Frage: Können wir uns zusätzlich für Kinder und Geflüchtete aus der Ukraine engagieren? Und falls ja, wie? „Dass wir etwas tun wollten und mussten, war schnell klar“, sagt Jürgen Borchardt, Vorstand Finanzen und Verwaltung rückblickend. „Vor dem Hintergrund unserer Erfahrung mit syrischen Flüchtlingen im Libanon haben wir dann auch schnell den Schwerpunkt festgelegt: die Behandlung von Traumata und dafür sorgen, dass die Kinder in den Flüchtlingslagern ein wenig Normalität erleben.“ Gesagt, getan: Personelle Ressourcen wurden befristet umdisponiert, ein interdisziplinäres Ukraine-Team zusammengestellt, das seitdem alle Maßnahmen koordiniert, beispielsweise die Partnersuche in den Ländern, wo konkret geholfen wird. „In Moldawien und Rumänien haben wir Kinderhilfsorganisationen gefunden, mit denen wir nun vor Ort zusammenarbeiten. Dort kümmern wir uns um einen Teil der über sechs Millionen geflüchteten Ukrainerinnen und Ukrainer.“ Über zehn Millionen Euro an Spenden hat die Kindernothilfe 2022 für die Ukraine-Hilfe vereinnahmt, „da war vom ersten Tag an eine unglaubliche Unterstützung“, so Borchardt. Ganz wichtig für ihn: „Wir haben andere Projekte wegen der Ukraine nicht eingeschränkt, das kam on top. Aber die Herausforderungen sind überall größer geworden: Nahrungslieferungen fallen aus, alles wird teurer – das hat Einfluss auf unsere gesamte Arbeit. Die Mehrkosten müssen wir irgendwie auffangen.“
Seit 1959 kümmert sich die Organisation um junge Menschen
Seit 1959 kümmert sich die Kindernothilfe besonders um junge Menschen in Not fast auf der ganzen Welt, in erster Linie auf der Südhalbkugel. Sie ist eine der größten deutschen Nichtregierungsorganisationen für Entwicklungszusammenarbeit und Humanitäre Hilfe. 2021 beliefen sich die Erträge auf 66 Millionen Euro. Derzeit stärkt, schützt und beteiligt sie mehr als 2,3 Millionen Kinder und Jugendliche mit 530 Projekten in 33 Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas und Europas. Das Ziel des Hilfswerks ist, Mädchen und Jungen ein dauerhaft menschenwürdiges Leben zu ermöglichen – ohne Armut, Elend und Gewalt. Dazu zählt die Sicherung ihrer Grundbedürfnisse und Rechte ebenso wie die Möglichkeit, dass sie ihre Entwicklung eigenhändig mit ihren Familien und Gemeinschaften vorantreiben können.
„Wir verstehen uns als langfristig arbeitende Organisation“, sagt Vorstand Borchardt. Alle Projekte führt die Kindernothilfe mit einheimischen Partnerorganisationen durch, die Mindestvertragslaufzeit beträgt vier Jahre. Hilfe zur Selbsthilfe, Partizipation und Nachhaltigkeit sind die leitenden Prinzipien. „Wir arbeiten sehr stark mit Müttern zusammen. Dazu bilden die Frauen kleinere Gruppen und arbeiten mit Trainern zusammen, um ihre Projekte zu entwickeln und umzusetzen. Sei es der Bau einer Schule, einer Brücke oder eines Brunnens.“ Zentral sei die gegenseitige Unterstützung in den Gruppen. Um die eigene ökonomische Situation zu verbessern, müsse gespart und Kredite aufgenommen werden. „Falls jemand krank wird, steht dann die Gemeinschaft ein und übernimmt die Raten. Das funktioniert bestens“, sagt Borchardt. Und warum der Fokus auf die Mütter? „Tja, immer wenn es eng wird, sind die Männer weg.“
Die Kindernothilfe ist Mitglied im Unternehmerverband
Hilfe zur Selbsthilfe ist das Prinzip der Kindernothilfe. Das umzusetzen ist allerdings häufig nicht einfach: Bürokratie und Vorschriften erschweren die Hilfsarbeit. „Oft brauchen wir akkreditierte Büros als Partner, vor allem in Afrika“, so Borchardt. Diese suchen dann das Personal für die Projekte und setzen beispielsweise Bildungsprogramm um. „Eigene Mitarbeiterinnen oder Mitarbeiter haben wir nicht vor Ort.“ Häufig müsse man auch notwendige Übel in Kauf nehmen, etwa beim Thema Kinderarbeit. „In Bolivien beispielsweise ist Kinderarbeit ab 12 Jahren erlaubt. Damit müssen wir umgehen und unsere Ziele anpassen. Wir arbeiten dann beispielsweise mit Nachdruck daran, dass die Kinder die Chance bekommen, Bildungsangebote wahrzunehmen. Das ist bisweilen frustrierend, aber nichts zu tun, ist keine Option.“
Aktuell beschäftigt die Dürre in Äthiopien die Kindernothilfe ganz besonders. Die Vorstandsvorsitzende Katrin Weidemann beschreibt das Hilfsprinzip dort so: „Das Land leidet unter der größten Dürre seit Jahrzehnten. Zuerst starb das Vieh, jetzt sind Millionen von Menschen akut vom Hunger bedroht. Seit Monaten leisten wir mit unseren Kindernothilfepartnern humanitäre Hilfe und unterstützen Familien mit Lebensmitteln, Spezialnahrung für Kinder, mit konzentriertem Futter und Medizin für Tiere. Das hilft zum Überleben. Was aber Hoffnung schenkt, ist die bewusste Stärkung von Müttern. Sie erhalten je zwei weibliche Kälber mit der Verpflichtung, das Erstgeborene an eine andere Frau zu verschenken. In einer Selbsthilfegruppe werden sie in Viehhaltung und weiterem Basiswissen geschult. Sie erarbeiten Nahrung für ihre Kinder und sich selbst. Es verleiht diesen Frauen eine nie gekannte Würde, wenn sie mit dem neugeborenen Kalb etwas wirklich Wertvolles verschenken können. ‚Ich war arm‘, sagte eine. ‚Ich war ein Niemand. Jetzt werde ich wahrgenommen.‘ Mit so gewonnenem Selbstbewusstsein wächst ihre Hoffnung, den anstehenden Herausforderungen ihres Lebens gewachsen zu sein.“
Um den wachsenden Herausforderungen gerecht zu werden, muss auch die Kindernothilfe ihre Arbeit und Prozesse immer wieder auf den Prüfstand stellen und neue Ideen entwickeln. „Corona war für uns ein Schub“, sagt Jürgen Borchardt. „Durch Videokonferenzen ist unsere Arbeit deutlich effizienter geworden.“ Früher hätten alle Absprachen und Planungen während der zwei- bis dreiwöchigen Auslandsreisen mit den lokalen Partnern abgewickelt werden müssen. Heute stehe man ständig in Kontakt und deutlich mehr Teammitglieder könnten involviert werden. „Das stärkt die Teilhabe und Identifikation. Zuletzt haben wir unsere komplette strategische Planung, die wir alle fünf Jahre vornehmen, digital abgewickelt. Wir konnten die Perspektiven der Teams vor Ort einholen und so eine gemeinsame Leitbildentwicklung umsetzen sowie die strategischen Ziele ableiten – das läuft heute alles viel agiler!“
Beim Thema Kinderschutz werden Vereine unterstützt
Auch an neuen Ideen herrscht kein Mangel. Während zuletzt die Jugendarbeit in vielen Sport- und anderen Vereinen immer wieder unter Missbrauchsverdacht geraten ist, geht die Kindernothilfe das Thema Kinderschutz konkret an. Beispiel Werder Bremen: Der Bundesliga-Erstligist gibt sich – mit Beteiligung von Mädchen und Jungen – ein neues Kinderschutzkonzept, und die Kindernothilfe spielt dabei eine wichtige Rolle. In 30 Ländern hat sie bereits mehr als 650 Organisationen geholfen, den Kinderschutz auf eine professionelle Basis zu stellen. In Deutschland wird diese Dienstleistung vermehrt von Sportvereinen angefragt. Partner ist auch die Deutsche Fußball Liga.
Mehr als 70.000 regelmäßige SpenderInnen
Oder das Thema nachhaltige Geldanlage: Zusammen mit der Bank für Kirche und Diakonie und anderen Partnern ist der Investmentfonds KinderZukunftsFonds entstanden. Eine Investition erfolgt ausschließlich in Unternehmen, die ihre Rolle für die Achtung der Kinderrechte anerkennen. Ein Schwerpunkt liegt auf Unternehmen, die ihren Gestaltungsfreiraum im Positiven nutzen und Bedingungen schaffen, die die Zukunft von Kindern verbessern.
All das zeigt: Auch nach über 60 Jahren gehen der Kindernothilfe die Ideen nicht aus. Die knapp 190 Mitarbeitenden seien mit einer enormen Motivation dabei, sagt Vorstand Borchardt. „Unser Ziel ist, dass das so bleibt. Und dass zu unseren über 70.000 regelmäßigen Spenderinnen und Spendern noch viele dazukommen.“
Autor: Christian Kleff
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